Béatrice Nicolas

art, peinture, dessin, texte, sculpture

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Les Seuils

„Sich wie eine Seiltänzerin zwischen zwei unendlichen Räumen zu bewegen – einem zeitlichen des Vorher und des Nachher, sowie einem physischen als Bewegung zwischen Himmel und Erde, das kennzeichnet für mich eine Schwellenerfahrung“, beschreibt Béatrice Nicolas ihre Arbeit. Die Serien Les seuils und Le temps long zeigen diese Parameter besonders deutlich. Es handelt sich hierbei um Zeichnungen, auf denen sich schwebende, amorphe Objekte zu offenen Räumen fügen. Die einzelnen Elemente sind aus feinen, dicht gesetzten Kugelschreiberstrichen entstanden. Aus den unterschiedlich gerichteten Strichführungen der auf dem Blatt entstehenden, bisweilen als Blütenblätter assoziierbaren Formen, entwickeln sich sowohl materielle Dichte als auch Mehrdimensionalität. So wird nicht nur Tiefe, sondern vor allem ein schwebender Eindruck hervorgerufen. Letzterer entsteht dadurch, dass die gerahmten Zeichnungen sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite bearbeitet wurden. Die Zeichnungselemente der Rückseite sind erahnbar, da sie als hellere Rasterungen durch das Weiß des Papiers hindurch scheinen. Das Thema „Schwelle“ ist auf mehreren Ebenen reflektiert worden: Die Zeichnungen transportieren in unserer Wahrnehmung ein „Dazwischen“ – zwischen der bearbeiteten Fläche der Vorderseite und der Dreidimensionalität des Papiers als Objekt im Raum, bei dem Vorder- und Rückseite zusammen gesehen erst ein Ganzes bilden. Wie bei aufwendig gewebten Jacquarddecken entstehen die Muster in Abhängigkeit der beiden Seiten voneinander.

Aber auch unsere Wahrnehmung der Oberfläche der Zeichnungen oszilliert im „Dazwischen“, indem das Raster der fein gesetzten Strichbündel zum Schwebenden, Flutenden wird, was mit dem Wort „schwellen“ durchaus zu verbinden ist.

Nimmt man den Titel der Serie Le temps long, so verweist auch dieser auf Schwellenerfahrungen; denn die „Lange Zeit“ hat nicht nur mit der „Dauer“, sondern vor allem mit der „Langeweile“ zu tun. Das Schwellende, der Wandel und Übergänge sind es, die uns aus langweilig, monotonen Handlungen plötzlich in andere Zeiten und Räume überspringen lassen: die des Traums, die der Phantasie, die wohl erahnbar, denen aber als erfahrbare Orte erst zur Präsenz verholfen werden muss.

In den großformatigeren Arbeiten dieser Serie mit den Titeln Gravitations geht Nicolas anders vor. Zwar wechseln sich auch hier Rasterungen und freie Elemente ab, um einen Ort und so Präsenz zu entwickeln, aber diese ganz unterschiedlichen „Materie-Elemente“ verdichten sich eher zufällig auf dem Papier. Das entspricht einer physikalischen Beschreibung der Gravitation. Unter den vier im Universum vorkommenden Kräften (der elektromagnetischen Kraft, der starken und der schwachen Kernkraft und eben der Schwerkraft) ist die Gravitation die schwächste. Gleichwohl ist sie dafür verantwortlich, dass wir uns an Orten auf der Erde bewegen und nicht frei im Raum schweben. Sie beispielsweise im Tanz oder als Seiltänzer für Momente scheinbar überwinden zu können, bewundern wir als Kunst. Denn das Besondere an dieser Kraft ist, dass sie immer anziehend ist. Wenn sich im Universum irgendwo eine Verdichtung von Materie gebildet hat, dann sorgt die Gravitation dafür, dass immer mehr Materie angezogen, die Dichte so immer größer wird. Dies kann ein Schlüssel zum Verständnis der Zeichnungen sein. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Zufälligkeit. An ihr lagert sich immer mehr zeichnerische „Materie“ ab. Mal besteht diese aus Bleistiftstrichen, mal sind es farbige Elemente, mal handelt es sich um Linien, mal um malerische Phänomene. Es entstehen Verdichtungen, die eine hohe Spannung transportieren und so vor allem die Kraft spürbar werden lassen, die zu ihrer Entstehung geführt hat.

Erforschen diese beiden Serien ein Räumlichwerden von Zeichnungen, ein Changieren zwischen Fläche und Raum, verläuft die Entstehung der skulpturalen Objekten hierzu komplementär: Bei ihnen verdichten sich Linien nun nicht mehr auf der Fläche, sondern werden selbst zu Flächen im Raum oder zu knäulartigen, dreidimensionalen Drahtobjekten, die den Raum mit Energie anzufüllen vermögen. Auch hier entsteht die Präsenz aus der Verdichtung.